Automotive

Nachhaltigkeit im Automotive-Sektor: neues Denken, neue Chancen

Nachhaltigkeit gewinnt auch in der Automobilindustrie immer mehr an Bedeutung – getrieben von der Diskussion über den Klimawandel und durch das Thema Corporate Social Responsibility. Die OEMs haben Nachhaltigkeit inzwischen zu einem zentralen Punkt ihrer Zukunftsstrategie erhoben. Doch was heißt das konkret? Und welche Facetten hat das Thema? Einen 360°-Blick darauf richteten renommierte Experten und Akteure aus Unternehmen und Politik anlässlich des business:forums Automotive 2021 der Commerzbank.

Der Wechsel vom Verbrennungs- zum Elektromotor ist in aller Munde und wird von der Politik immer weiter vorangetrieben. Doch Nachhaltigkeit umfasst weit mehr. Daher appelliert Frank Mäder (Sektorkapitän Automotive, Commerzbank AG): „Die erfolgsverwöhnten deutschen Automotive-Unternehmen müssen Vordenker bleiben.“ Damit dies gelingen kann, sollten alte „Glaubenssätze“ immer wieder kritisch hinterfragt werden. Gleichzeitig gilt es, keinen Tunnelblick auf das Thema Nachhaltigkeit zu entwickeln, sondern neue Chancen frühzeitig wahrzunehmen und mutig in marktfähige Lösungen zu verwandeln. Als Inspiration zur Innovation verstehen sich die fünf folgenden Thesen.

1. „Für Zulieferer heißt Nachhaltigkeit: Es gibt nicht nur eine Lösung.“

Dr. Torsten Habermann, Managing Director, Fränkische Industrial Pipes GmbH & Co. KG

Durch das Besinnen auf die eigenen Kernkompetenzen und durch flexibles Reagieren auf Marktanforderungen sind Mittelständler in der Lage, den aktuellen Transformationsprozess in der Automobilindustrie erfolgreich für sich zu nutzen, z. B. durch den Wandel vom Produktlieferanten hin zum Systemanbieter in sich dynamisch entwickelnden Marktsegmenten. Dr. Torsten Habermann weiß, wovon er spricht, denn der Fränkische Industrial Pipes GmbH & Co. KG ist genau das gelungen, sodass das Unternehmen heute im Feld der E-Mobility gut etabliert ist. Deshalb kennt er aus der Praxis die Erfolgsfaktoren, die im Wandel wesentlich sind: Es ist aus seiner Erfahrung der harmonische Dreiklang aus Produkten, Materialien und Mitarbeitern, der auch der Schlüssel für das Thema Nachhaltigkeit ist.

Produkte für die Märkte von morgen

Wer seine Produktpalette zukunftsfähig ausrichten will, der muss die Märkte und Abnehmer von morgen kennen. Fränkische Industrial Pipes identifizierte das Thermomanagement für Batterien als Zukunftsfeld und arbeitet in diesem Bereich eng mit Start-ups sowie etablierten OEMs zusammen. Heute gehören Produkte zur Batterie- und Fahrzeugkühlung sowie zur Kühlung der Ladeinfrastruktur zum Portfolio des Unternehmens.

Material, das Ressourcen schont

Materialien spielen immer eine Schlüsselrolle, wenn es um Innovation geht – gemeinsam mit dem dazu erforderlichen Mut. Beim Thema Nachhaltigkeit ist dies nicht anders. Bei der Suche nach Alternativen zu Kunststoffen auf der Basis von Rohöl in der Produktion wurde Fränkische Industrial Pipes bei Rizinusöl fündig!

Mitarbeiter mit den richtigen Ideen

Die Mitarbeiter machen Innovationsführer aus, dessen ist sich Dr. Torsten Habermann sicher. Deren Know-how in Kombination mit einer langjährigen Betriebszugehörigkeit – im Fall der Fränkische Industrial Pipes über 25 Jahre – sind das Ideenkapital der Unternehmen. Und dies gilt es zu halten und auszubauen – gerade auch für mittelständische Familienunternehmen!

2. „Nachhaltigkeit – die größte Herausforderung unserer Zeit.“

Martin Seimetz, Managing Director, Projektleitung Sustainability Firmenkunden, Commerzbank AG

Nachhaltigkeit ist für Martin Seimetz schlicht die größte Herausforderung unserer Zeit. Und gleichzeitig weiß er, dass die Unsicherheit bei Umsetzungsstrategien dafür groß ist – sowohl in technischer als auch in regulatorischer Hinsicht und das global für alle Akteure. Die Herausforderung liegt in der notwendigen Operationalisierung, die jeden Unternehmensbereich betrifft – vom Geschäftsmodell über die Gebäude bis hin zu den Mitarbeitern. Alle Aspekte von Nachhaltigkeit enthält das Kürzel „ESG“, das in Wirtschaft, Politik und Wissenschaft weite Verwendung findet.

  • Environment (Umwelt): Das „E“ steht hierbei z. B. für Umweltverschmutzung oder -gefährdung, Treibhausgasemissionen oder Energieeffizienzthemen.
  • Social (Soziales): „S“ beinhaltet Aspekte wie Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz, Diversity oder gesellschaftliches Engagement.
  • Governance (Aufsichtsstrukturen): Unter „G“ wird eine nachhaltige Unternehmensführung verstanden. Hierzu zählen z. B. Themen wie Unternehmenswerte oder Steuerungs- und Kontrollprozesse.

Die Commerzbank muss alle drei Bereiche im Blick behalten. Unterm Strich müssen die Unternehmen – und Stakeholder – bei alledem weiter Geld verdienen können–, die Monetarisierung nachhaltiger Veränderungen ist keineswegs trivial.

Insofern wünschen sich die Unternehmen eine Bank an ihrer Seite, die über kompetente Ansprechpartner sowie Produkte für alle Anforderungen rund um das Thema Nachhaltigkeit verfügt – vom ESG-Rating bis hin zu Lösungen für die Kunden, die sich noch nicht mit dem Thema beschäftigt haben. Und das in einem offenen, partnerschaftlichen Dialog zum Austausch von Ideen und mit einer langfristigen Perspektive.

3. „Durch Mut und Kooperationen entsteht aus Nachhaltigkeit Erfolg.“

Lothar Weihofen, Executive Vice President, DEKRA SE

Nachhaltigkeit ist weder ein Selbstläufer noch ziehen die Akteure, Politik, Wissenschaft und Industrie, an einem Strang – zumindest in Europa. Aber worauf kommt es an, wenn Unternehmen mit Nachhaltigkeit Erfolg haben wollen? Aus der Erfahrung von Lothar Weihofen sind Kooperationsbereitschaft und Mut wesentliche Treiber dafür.

Mut, genauer hinzuschauen

Batterieelektrisches Fahren mit Ökostrom ist die nachhaltige Mobilitätslösung!? So einfach, wie es auf den ersten Blick aussieht, ist es nicht. Der Lebenszyklus der Batterie birgt in der Nachhaltigkeitsbetrachtung einige unliebsame Überraschungen: So kommen die Rohstoffe für die Batteriefertigung zu einem guten Teil aus Minen in Afrika, wo sie unter oft fragwürdigen Arbeitsbedingungen gewonnen werden. Und am Ende eines Batterielebens? Bleiben 800 Kilogramm Sondermüll übrig, dessen weiterer Weg unklar ist. Ein Beispiel, das aufzeigt, warum Unternehmen genau hinsehen müssen, wenn sie auf das Thema Nachhaltigkeit setzen.

Mut zum Change – trotz Erfolg

Was kennzeichnet den deutschen Automotive-Sektor im weltweiten Wettbewerb, wenn es um Veränderungsbereitschaft geht? Im Vergleich zu China muss er ohne eine durchsetzungsstarke zentrale staatliche Steuerung und massive Förderung auskommen. Im Vergleich zu den USA ist es für die Unternehmen hierzulande nach wie vor schwierig, an Wagniskapital heranzukommen. Dann bleiben der Branche noch ihre bisherigen Erfolge. Doch genau dies, so warnt Lothar Weihofen, könnte sich als die kulturelle Change-Bremse herausstellen.

Insofern gilt es, den unternehmerischen Mut wieder zu entdecken und diesen in der Umsetzung durch mehr Mut zu Kooperationen zu ergänzen.

4. „Die Brennstoffzelle wird Teil einer nachhaltigen Mobilität der Zukunft.“

Thomas Jessulat, Finanzvorstand, ElringKlinger AG

Wie wichtig die Bereitschaft zum Change ist, das bestätigt auch Thomas Jessulat, der von einem brutalen Transformationsprozess spricht, in dessen Folge eine nachhaltige Veränderung der Geschäftsmodelle stattfindet.

Die Zukunft beginnt immer jetzt

Die ElringKlinger AG begann vor 20 Jahren mutig mit der Entwicklung der Brennstoffzellen-Technologie, wagte vor mehr als 10 Jahren den Einstieg in die Elektromobilität, sodass Thomas Jessulat heute sagen kann: „Vor zwei Jahrzehnten haben wir begonnen zu säen. Jetzt wird geerntet. Hätten wir uns zu unserer Zukunftssicherung nicht für diesen Weg entschieden, wäre die ElringKlinger AG heute wegen zu hoher Abhängigkeit vom Verbrennungsmotor ein Auslaufmodell.“

Brennstoffzelle für das Nutzfahrzeugsegment

In einer nachhaltigen Zukunft sieht Thomas Jessulat den Platz für wasserstoffbetriebene Brennstoffzellen vor allem im Nutzfahrzeugmarkt. Zur Förderung der Wasserstofftechnologie gibt es bereits entsprechende staatliche Förderprogramme, in deren Rahmen Deutschland 9 Mrd. Euro und Frankreich 7 Mrd. Euro bereitstellen. Jetzt sind also die Unternehmen gefragt, ihre Ideen einzubringen und die Mobilität der Zukunft mitzugestalten.

5. „Mobilität wir gerade neu erfunden – das Auto übernimmt dabei die Funktion des Restverkehrsmittels.“

Boris Palmer, Oberbürgermeister, Stadt Tübingen

Boris Palmer und der Tübinger Gemeinderat verfolgen klare Ziele: „Tübingen soll bis 2030 klimaneutral werden“, so der Oberbürgermeister.

Von der Autostadt zur klimaneutralen Mobilität

Das Klimaschutzprogramm der Stadt enthält im Bereich Mobilität viele konkrete Maßnahmen: vom Bau der Regionalstadtbahn, besseren und kostenlosen Nahverkehr über die Einführung einer E-Busflotte und E-Autoflotte für das Carsharing bis hin zu Maßnahmen zur Umverteilung des Verkehrsraums im Stadtzentrum zugunsten von Fußgängern, Rollstuhl- und Radfahrern, Lastenfahrrädern und E-Rollern.

Neues Denken

Alle diese Maßnahmen sind heute technisch umsetzbar, keine für sich allein ist eine Revolution und doch zeigt sich hier ein neues Denken, von dessen Umsetzung die Bürger Tübingens enorm profitieren können. Doch was bedeutet dieses kommunale Mobilitätskonzept für die Unternehmen des Automotive-Sektors – angesichts der neuen Rolle des Autos als Restverkehrsmittel?

Neue Chancen

Als Lokalpatriot in einer der stärksten Automotive-Regionen Deutschlands hat Palmer auf diese Frage eine visionäre und gleichzeitig ambitionierte Antwort: „Wenn hier in der Region vor rund 100 Jahren der erste Siegeszug des Autos um die Welt begann – dann wünsche ich mir, dass es unseren Unternehmen gelingt, diese Erfolgsgeschichte noch einmal zu wiederholen. Das Auto neu zu erfinden, passend für die Welt von morgen – mit allen Möglichkeiten und Ideen von heute.“

Peter Fuß, Senior Advisory Partner Automotive GSA, EY

Fazit: „Die immensen Herausforderungen erfordern deutlich mehr Zusammenarbeit.“

Moderator Peter Fuß stellt am Ende des business:forums Automotive 2021 nochmals die Fülle und Komplexität der Veränderungen und Aufgaben heraus, die aus dem Thema Nachhaltigkeit auf die Player im Sektor Automotive zukommen. Kooperationen werden deshalb wichtiger werden – so seine Prognose. Denn die immensen Herausforderungen werden nur gemeinsam lösbar sein.